Militarismus ist die Organisation von Gewalt
Das Buch »Die Unverschämte – Gespräch mit Pınar Selek« würdigt umfassend die Denkwege und den Aktivismus der türkisch-französischen Soziologin und Autorin.
»Ich dagegen wollte nicht wirklich eine Fee sein, aber ich wollte ein verzaubertes Leben führen. Und dies hat mein Leben bestimmt, meine Liebesbeziehungen, meine Freundschaften und mein politisches Engagement. Ich suche immer nach etwas Magischem.« Vielleicht liegt es an dieser Suche, von der Pınar Selek im Gespräch erzählt, als sie von ihrer Schwester und sich spricht, die sie am Leben hält und wegen der sie sich für eine andere Welt einsetzt. Aufgewachsen ist sie in Istanbul, ihr Vater war ein bekannter linker Anwalt, ihr Großvater ein Mitbegründer der kommunistischen Partei. Es scheint, als wäre ihr ein Leben als linke Intellektuelle in die Wiege gelegt. Dennoch ging Selek sehr ungewöhnliche Wege. Mit 15 schloss sie sich libertären Zirkeln an, später lernte sie das Leben von Straßenkindern kennen und lebte mit ihnen, sie studierte Soziologie, eher nebenbei, sie lebte und arbeitete mit transsexuellen Personen am Taksim-Platz, sie baute mit ihnen ein Kulturzentrum auf, inspiriert von der Hausbesetzerszene in Deutschland und Frankreich.
Forschungen die Augen öffnen
In ihrer Zeit am Taksim-Platz lernte sie auch Sexarbeiter*innen kennen, sie half bei deren Organisierung und sie stellte erste soziologische Forschungen an. Abends ging sie in ein Bordell und beobachtete versteckt vom Nebenraum aus, durch einen Spiegel die ankommenden Kunden: »Ich empfand es als Ohrfeige. Durch diesen Spiegel haben sie mir zu einer Einsicht verholfen, mir ein anderes Gesicht der Gesellschaft gezeigt. Ich war immer noch jung, gerade 25 Jahre alt. Ich konnte die Art nicht ausstehen, wie diese Männer sexuelle Dienstleistungen von diesen Mädchen erhielten, und auch nicht die widerwärtige Art, mit der sie sie behandelten. Ich sah mehrere Männer, die eine bedeutende Rolle in den sozialen Kämpfen spielten, und fragte mich, warum ich meine Zeit mit solch einer Forschung verschwendete. Es gab etwas Verabscheuungswürdiges bei all diesen Männern.« (Seite 71)
In ihrer darauffolgenden Arbeit beschäftigte sie sich mit den Aktivist*innen und Kämpfer*innen der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans). Diese sollte ihr schließlich zum Verhängnis werden. Der türkische Staat versuchte, für seinen militärischen und polizeilichen Kampf gegen die kurdische Bewegung Namen und Adressen ihrer Interviewpartner*innen aus ihr herauszupressen. Pınar Selek weigerte sich. Anschließend geriet sie unter Terrorverdacht und in die türkische Repressionsmaschine. Bei einem tragischen Unfall durch eine defekte Gasflasche, die an einem Gemüsemarkt in Istanbul explodierte, starben mehrere Menschen. Dieses Unglück wurde zu einem Sprengstoffanschlag umgedichtet. Selek landete als Haupttäterin vor Gericht. Es folgten Haft, Folter und Isolation.
Gegen alle Herrschaftssysteme
Im Gefängnis beschäftigte sich Selek intensiv mit der Friedens- und antimilitaristischen Bewegung in der Türkei und schrieb darüber. Ihre Kritik richtet sich nicht nur gegen Militarismus und Nationalismus, sondern auch gegen den Pazifismus der traditionellen kommunistischen Bewegungen in der Türkei, die eine Kritik an diesen reaktionären Ausformungen stets aussparten. Dieses Buch wird später Abdullah Öcalan, der unumstrittenen Führerfigur der PKK, in die Hände fallen und zu einem wichtigen Impulsgeber für die Neuausrichtung der PKK werden.
Am 22. Dezember 2000 wurde Pınar Selek freigesprochen und auf Kaution freigelassen. Ihre politischen Aktivitäten setzte sie anschließend unmittelbar fort. Sie gründete die heute noch existierende feministische, antimilitaristische und antinationale Organisation »Amargi« mit. Der Name stammt aus der sumerischen Sprache und bedeutet so viel wie »Freiheit«. Das verbindende Element innerhalb der Gruppe ist das Wissen darüber, dass »gegen das Patriarchat zu kämpfen bedeutet, gegen alle Herrschaftssysteme zu kämpfen«. (Seite 115) In den Gesprächen erzählt Selek, wie wichtig es für sie war, die Differenzen und intersektionalen Mechanismen in Bezug auf Frauen* mitzubedenken.
Die Schriften von bell hooks schärften ihren Blick dafür und durch sie verstand sie, dass »die feministische Bewegung die Herrschaftsverhältnisse nicht hierarchisieren darf, um Priorisierungen zu schaffen.« (Seite 116) In diese Lebensphase fiel auch ihre Beschäftigung mit Murray Bookchin und seiner Vorstellung von »organischen Gemeinschaften«. »In der Türkei hatten meine Freund*innen und ich seit Langem verstanden, dass wir das System nicht ohne eine andere Lebensweise verändern konnten. Die Frage, ›Wie lebe ich?‹, ist mir seit Langem sehr wichtig.« (Seite 127) Daher fällte sie für sich auch die Entscheidung, keine Kinder in die Welt zu setzen und stattdessen mit Genoss*innen ein familiäres Leben zu führen.
Der Gang ins Exil
Doch der türkische Staat wollte den Freispruch nicht akzeptieren und setzte alles daran, ihn zu revidieren. Man holte im Fall Pınar Selek zu einem weiteren Schlag aus und wurde wieder gerichtlich aktiv. Eine neuerliche Verurteilung drohte. Da das Kammergericht sie für den nächsten Prozesstermin präventiv inhaftieren wollte, floh sie am 7. April 2009 mit einem Koffer und ein paar Fotos nach Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt war sie 38 Jahre alt. Wenig später ging sie nach Frankreich. In dem Buch spricht sie darüber, wie sie im Exil ihre Orientierung verlor, obwohl sie als Jugendliche die französische Sprache gelernt hatte. »Die Sprache reicht nicht aus, um eine Orientierung zu finden. Eine Orientierung beinhaltet alle Beziehungen, die Beherrschung des Raumes und des Kontextes, der einen umgibt.« (Seite 156)
In Frankreich erhielt sie schließlich recht bald die Staatsbürger*innenschaft, sie schrieb ihre Dissertation und fand mit Nizza einen Ort, wo sie sich eine Existenz aufbauen konnte, indem sie eine Anstellung an der dortigen Universität erhielt. Auch hier versuchte sie sich ihre Freiräume zu schaffen, weil auch die Institution Universität ihre Verwerfungen hat. »Darin liegt der Zwang des Kapitalismus: Er zwingt nicht zum Gleichschritt wie in der diktatorischen oder militärischen Ordnung, aber er existiert als eine unsichtbare Ordnung, eine verinnerlichte Disziplin, die sich der ganzen Welt aufzwingt. Das Bildungssystem und die Universität lehren nicht, gegen das kapitalistische System zu kämpfen, sondern sie lehren das Rennen, um individuell am besten aus diesem schlimmen Wettkampf hervorzugehen.«
Gegen Gewalt und Militär
Aktuell ist immer noch ein Gerichtsverfahren gegen Pınar Selek anhängig. Obwohl der Prozess von internationalen Beobachter*innen, beispielsweise der Schriftsteller*innenvereinigung PEN Club in Deutschland, als Farce bezeichnet wurde, wird er fortgeführt. Nach jedem Freispruch folgen Aufhebungen und neuerliche Anklagen usw. Selek wird vom türkischen Staat bis heute gerichtlich bedroht. Ihr droht lebenslange Haft. Warum ist diese Frau für einen autoritären Staat wie die Türkei (in der Politikwissenschaft spricht man seit dessen Umbau in ein Präsidialsystem im Jahr 2018 von einem elektoralen Autoritarismus) so gefährlich?
Selek ist eine Aktivistin, die sich lautstark für feministische und LGBTQ+ Anliegen einsetzt und sie kritisiert Patriarchat, Nation sowie Militär bzw. den Militärdienst: »Antimilitarismus heißt meiner Meinung nach, nicht nur gegen eine Armee zu sein, sondern auch gegen jede Hierarchie, jede Legitimation und Organisation von Gewalt und Macht. Alles hängt zusammen. Militarismus ist die Organisation von Gewalt.« (Seite 133) Doch ihre Kritik dabei ist umfassend und spart auch linke bzw. autoritär kommunistische Gruppierungen nicht aus.
Das in der Haft geschriebene Buch ist 2004 in der Türkei unter dem Titel »Barisamadik« (»Wir haben keinen Frieden geschlossen«) erschienen und hat Abdullah Öcalan so beeinflusst, dass er sie anschließend bat, »der kurdischen Bewegung zu helfen, sie zum Aufbau des Friedens hin zu orientieren«. (Seite 135) Selek unterstützt diese, übt aber weiterhin Kritik an der PKK. »Meines Erachtens ist die PKK eine sehr hierarchische und patriarchale Organisation, die weder libertär noch feministisch ist. […] Ich kenne keine anarchistische Transformation, die sich auf eine Armee stützt. Wenn man damit beginnt, Waffen zu benutzen, muss man sich eine Struktur wie bei einer Armee geben.« (Seite 137)
Über das Gespräch und das Buch
»Die Unverschämte« wurde von Lou Marin aus dem Französischen übersetzt und erschien im Verlag Graswurzelrevolution, der für seine Bücher mit Schwerpunkt Gewaltfreiheit und Anarchismus bekannt ist. Das Original wurde von Guillaume Gamblin geschrieben, einem Freund und Genossen von Pınar Selek. Es ging aus fünf oder sechs Interviews hervor, die zunächst in der französischen Zeitschrift »Silence« veröffentlicht wurden. Der Autor äußert sich zu den Gesprächen folgendermaßen: »Wenn ich mit Pınar über ihren persönlichen Werdegang diskutiere, überrascht mich bei ihren Antworten immer wieder, dass sie erst ausführlich über den sozialen und politischen Kontext der Türkei zu erzählen beginnt, über die Protestgeschichte in ihrem Land, bevor sie dann auf ihre persönliche Geschichte zurückkommt. Pınar spricht zuerst über die Welt, in der sie aufgewachsen ist.« (Seite 9)
Dem ist zuzustimmen. In den Schilderungen von ihrem Leben und Erleben öffnen sich stückweise Teile einer Welt, die Leser*innen in Mitteleuropa vielleicht weniger bekannt sind. Und es tritt eine Person hervor, die ungewöhnlich, vielleicht sogar wirklich unverschämt ist. Hinzu kommt, Seleks politische Ansichten sind radikal und weitsichtig. Diese Mischung macht das Buch zu einem lesenswerten Abenteuer und Impulsgeber.
siehe: https://skug.at/militarismus-ist-die-organisation-von-gewalt/